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Mit beiden Beinen im Leben

Artikel aus dem Teckbote 2012 über STEFAN LÖSLER

Sport ist seine Leidenschaft – heute mehr denn je. Bewegung und Selbstbestimmung sind für Stefan Lösler eins geworden. Das Heft nicht aus der Hand geben, auch wenn das Schicksal es anders will. Nach einem tragischen Unfall, bei dem er vor zwei Jahren ein Bein verlor, hat sich der 27-Jährige aus Bissingen neue Ziele gesetzt. Eines davon: die Paralympics in Rio 2016.

Bissingen. Er war Kickboxer, Triathlet, hat Radmarathons bestritten und im Winter als Snowboard-Lehrer gearbeitet. Kein vom Ehrgeiz Zerfressener, vielmehr einer, der gerne draußen ist und Spaß hat an vielerlei Formen von Bewegung. Das war vor dem 6. Juni 2010. Vor jenem späten Sonntagabend, der sein Leben verändert hat.

In Graz, wo er an der Technischen Universität ein Studium zum Toningenieur absolviert, hat Stefan Lösler an diesem Abend einem Freund bei einem Job ausgeholfen. Die beiden jungen Männer sind auf dem Heimweg durch einen Vorort, als im voll beladenen Auto eine Kabeltrommel ins Rutschen gerät. Ein kurzer Stopp am Straßenrand, Stefan Lösler schaltet das Warnblinklicht ein und steigt aus, um nach dem Rechten zu sehen. Der Augenblick, der folgt, hat sich für immer in sein Gedächtnis gebrannt. „Ich habe ihn im Augenwinkel kommen sehen“, sagt Lösler. Am Steuer des Wagens, der ihn von hinten rammt, sitzt ein Betrunkener, der den geparkten Kombi zu spät erkennt.

Stefan Lösler hat keine Chance. Sein einziges Glück: Weil er seitlich versetzt hinter dem Auto steht, gerät nur ein Bein zwischen die Stoßfänger der beiden Fahrzeuge. Bis heute kann er sich an jedes Detail erinnern. „Ich wollte ohnmächtig werden, aber es gelang mir nicht“, sagt er. „Mir war sofort klar: Das Bein ist weg.“ Bei klarem Verstand unterhält er sich länger als eine Viertelstunde mit dem Freund und einer Passantin, bis endlich die Rettungskräfte eintreffen und ihn durch eine Narkose erlösen.

Zwei Tage lang wird Stefan Lösler von den Ärzten im künstlichen Koma gehalten. Als er zu sich kommt, sind seine Gedanken von Medikamenten umnebelt, das Bein auf Höhe des Knies amputiert. „Es gab Nächte, in denen die Verzweiflung groß war“, erinnert er sich. „Doch ich habe schnell beschlossen, dass es weitergehen muss.“ Vier Wochen verbringt er im Krankenhaus in Graz, einen weiteren Monat im Uniklinikum in Tübingen. Von dort geht es ins Allgäu zur Reha. Die erste Bekanntschaft mit der Prothese wirkt dort wie eine Initialzündung. „Ich habe das fremde Körperteil sofort als Chance erkannt, erzählt Stefan Lösler. „Für mich war das von Beginn an positiv besetzt.“ Entsprechend schnell lernt er, damit zu gehen, lässt sich auch durch unzählige Stürze nicht entmutigen. Er beginnt zu laufen, erst wenige kraftraubende Meter, dann immer länger. Um weicher zu fallen, wechselt er auf die Tartan-Bahn und absolviert schließlich seinen ersten Stadtlauf über zehn Kilometer.

Fast ebenso viel Kraft wie das körperliche Training kosten Organisation und bürokratische Hürden. Weil er sich mit orthopädischem Standard nicht zufriedengeben will, ist er ständig auf der Suche nach den besten Werkstätten, dem neuesten Stand in der Entwicklung. Erst schafft er Tatsachen, dann kümmert er sich um die Finanzierung. Immer in der Angst, auf den Kosten sitzen zu bleiben. Deshalb wird er schließlich selbst aktiv. Noch während der Reha entwickelt er gemeinsam mit seinem Techniker eine Spezialanfertigung mit Flossen, die ihm das Schwimmen ermöglicht. Mit einer 14 000 Euro teuren Sportprothese kann er erstmals wieder aufs Rad steigen. Das Kniegelenk, das er dafür braucht, stammt vom österreichischen Weltmarktführer, bei dem er sich offiziell als Testperson bewirbt.

Inzwischen arbeitet Stefan Lösler mit den Entwicklern Hand in Hand. „Dafür bin ich immer mit der neuesten Technik unterwegs“, sagt er. So wie im Frühjahr, als er auf einem Gletscher in den französischen Alpen ein speziell für Snowboard-Fahrer entwickeltes Gelenk testen durfte. Seitdem geht ihm ein Gedanke nicht mehr aus dem Kopf: Er will dabei sein, wenn Snowboarden 2014 in Sotschi zum ersten Mal zur paralympischen Disziplin wird. Wenn es stimmt, dass der Wille Berge versetzt, dann kommt der Deutsche Behinderten-Sportverband am jungen Mann aus Bissingen nicht vorbei. Zwei Tage nach der offiziellen Verkündung durch das Internationale Paralympische Komitee (IPC) Anfang Mai klingelt im Büro des deutschen Verbands das Telefon: „Stellt ihr ein Team?“, will Stefan Lösler wissen und bekommt keine Antwort. Zu diesem Zeitpunkt ist man an offizieller Stelle über die Neuigkeit noch gar nicht informiert. Es dauert etwas mehr als ein halbes Jahr, bis er sein erstes Snowboard-Rennen als Behindertensportler bestreitet. Diesen Winter will er die Qualifikation in der Tasche haben.

Viel Zeit, ins Grübeln zu geraten, darüber nachzudenken, was gewesen wäre, hätte es diesen Sonntag vor zwei Jahren nie gegeben, bleibt nicht. Im Sommer nahm Stefan Lösler an der Duathlon-WM in Nancy teil, wurde dort auf Anhieb Zweiter in seiner Klasse. Im kommenden Jahr will er bei den deutschen Meisterschaften im Para-Triathlon an den Start gehen und sich 2016 einen Traum erfüllen: Bei den Paralympics in Rio wird Triathlon zum ersten Mal als Disziplin vertreten sein, und auch dort will er bei der Premiere dabei sein.

Sein Optimismus und seine Entschlossenheit wirken ansteckend. Einem wie ihm wäre es vermutlich auch ohne den Sport gelungen, diese Lebenskrise zu meistern. Doch der Sport hat vieles erleichtert und vielem einen neuen Sinn gegeben. „Ich bin ein positiver Mensch“, sagt er. „Meine Referenz ist immer, wie es früher war, ohne zu wissen, ob das gut oder schlecht für mich ist.“

„Schallfeldabtastung und Reproduktion“ heißt das für den Laien kryptisch klingende Thema seiner Projektarbeit, der er sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für elektronische Musik der Kunstuniversität in Graz widmet. Zu Beginn des neuen Jahres beginnt er dort mit seiner Masterarbeit. Im Sommer will er sein Studium beendet haben. An Erfolg zu zweifeln, hat sich Stefan Lösler in den vergangenen beiden Jahren abtrainiert.

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